Schon fast ist der Coachingbegriff zu einem Unwort verkommen. Es gibt keine Regulierung, und was sich dahinter verbirgt, ist sehr unterschiedlich, aber eben auch missverständlich. Das schreckt mich aber nicht davon ab, für mehr Coaching im Alltag zu plädieren. Hier ist der Grund.
Fragen sind so viel wertvoller als Antworten
Wir haben alle schon viel erlebt. Egal, ob wir zu den älteren und jüngeren Semestern gehören: Unser Rucksack hat schon eine ganze Bandbreite an Erfahrungen aufzuweisen. Aus diesem Grund können wir auch fast alle zu fast allem etwas beisteuern, zumindest theoretisch. Kennt ihr das? Ihr seid in einem Gespräch und wollt etwas erzählen, das euch tief beschäftigt. Und euer Gegenüber hat alle paar Sätze einen Einschub parat mit «Ja genau, das ist mir auch schon passiert. Ich habe dann jeweils X oder Y gemacht. Das war bei mir super.». Und habt ihr euch dabei auch schon geärgert, weil das letztlich gar nicht so genau zu Eurem Kontext gepasst hat? Oder weil ihr dadurch zu wenig Raum bekommen habt, die Details eures Themas genauer zu erläutern? Oder weil ihr einen ungefragten Ratschlag bekommen habt, obwohl ihr gar nicht darum gebeten habt? So geht es vielen von uns. Und das Gegenüber meint es auch gar nicht böse, im Gegenteil. Wir wollen mit unseren eigenen Erfahrungen eigentlich nur eines: helfen. Dieses Helfersyndrom – ob bewusst oder unbewusst – ist in vielen von uns einprogrammiert und macht auch ab und zu Sinn. Allerdings nicht so oft wie wir meinen.
Abb.: Advice Monster, eigene Darstellung mit Unterstützung von Dall-E
Advice Monster zügeln
Michael Bungay Stanier erläutert in seinem Buch «The Coaching Habit» und vor allem auch in seinem Ted X Talk (Link) sehr eingängig, wie es vielen auf der anderen Seite geht. Nehmen wir mal an, wir bekommen von unseren Gesprächspartner:innen ein konkretes Anliegen erläutert und es wird sogar direkt um Hilfe gebeten. Was passiert? Wir fühlen uns geehrt. Denn schliesslich will jemand von unserem Wissen profitieren. Von unserer Erfahrung. Wir können jemandem helfen, nicht die gleichen Fehler machen zu müssen wie wir. Das ist doch grossartig. Die Person beginnt also zu erzählen, worum es geht, und dann passiert es nicht selten, dass wir nur noch halbherzig zuhören, weil wir in unserem Kopf bereits auf der Suche nach einer passenden Lösung oder Antwort sind. Unser Advice-Monster wurde freigelassen und sieht die perfekte Gelegenheit, endlich wieder ins Scheinwerferlicht zu treten. Vielleicht werden wir deshalb sogar etwas ungeduldig, weil wir meinen, wir hätten das Anliegen unseres Gegenübers längst begriffen. Und das ist menschlich. Aber leider hat Michael diesen Zug in unserem Charakter nicht umsonst Monster genannt. Denn ein zu starker Drang, helfen oder gar jemanden retten zu wollen, ist gar nicht so nett wie wir meinen. Indirekt kann das nämlich auch heissen, dass wir der Person nicht zutrauen, selbst auf eine Lösung zu kommen. Und jetzt wird auch klar, wieso ich im Einleser für Coaching plädiert habe: wenn wir davon ausgehen, dass unser Gegenüber so viel mehr Wissen über die aktuelle Situation hat, und aus diesem Grund die nötigen Ressourcen hat, um selbst auf eine dazu passende Lösung zu kommen, sind wir mit Fragen aus einer anderen Perspektive die grösste Hilfe.
Ratschläge zu erteilen, ist grundsätzlich nicht schlecht, aber wenn wir sie zu früh geben, oder einfach aus Gewohnheit, dann kann unser Rat auch in eine falsche Richtung gehen. Aus drei Gründen:
Wir wollen das falsche Problem lösen (wir haben das Problem dahinter noch gar nicht wirklich verstanden).
Unsere Ratschläge sind nicht annähernd so gut wie wir meinen (Stichwort Cognitive biases).
Die Person, die den Ratschlag erhält, hat nicht das Gefühl, die Lösung aus eigener Kraft erschaffen zu haben, was nicht förderlich für ihr Selbstvertrauen ist.
Coaching im Führungsalltag
Bereits in einem früheren Artikel habe ich über Coaching als Führungswerkzeug geschrieben (direkt zum Artikel geht es hier).
In Workshops zum Thema werde ich immer wieder gefragt, wie das denn im hektischen Alltag gehen soll. Und klar: Coaching ist kein Allerweltsheilmittel. Ich sage weder, dass wir nun alle Coaches werden sollen. Noch sage ich, dass Coaching für jede Situation geeignet. Aber ich wage hier mal eine steile These: Je tiefer das Stresslevel einer Situation ist, desto mehr eignet es sich, statt mit einem Ratschlag, erstmal mit einer Frage zu antworten. Oder so simpel wie Michael es formuliert: «Stay curious longer.» Wir sind so verzogen, alles so schnell wie möglich erledigen zu wollen, Probleme sofort lösen zu wollen, oder eben umgehend helfen zu wollen. Das ist aber leider sehr kurzfristig gedacht. Denn wenn wir unseren Mitarbeitenden bei einer Herausforderung direkt sagen, was wir nun tun würden, hilft ihnen das zwar kurzfristig, längerfristig werden sie aber wohl beim nächsten Thema wieder zu uns kommen. Das hat schliesslich beim letzten Mal auch super geklappt. Nehmen wir uns aber nur ein kleines bisschen mehr Zeit und versuchen zumindest mit einer oder zwei Fragerunden einen möglichen Ansatz aus der Person selbst herauszuholen, kann das nachhaltig wirken:
Die Person ist stolz, weil sie selbst einen brauchbaren Lösungsweg gefunden hat.
Das nächste Mal kann sie diesen Gedankengang vielleicht selbst durchführen und braucht keine Kapazitäten der Führungsperson.
Die Person entwickelt sich.
Es können neue Lösungen entstehen, auf welche die Ratgebenden nicht gekommen wären: es entsteht Raum für Innovation.
Abb.: Coaching mit Leichtigkeit im Alltag, Eigene Darstellung
Fazit
Natürlich ist Coaching viel mehr, als einfach ein paar Fragen zu stellen. Wozu ich uns alle ermutigen möchte ist, unsere Ratschläge einfach einen Moment länger zurück zu halten und zu versuchen, unseren Gesprächspartner:innen den Raum für das finden ihrer eigenen Lösung zu geben. Wir sind dabei wertvolle Ping-Pong-Spieler:innen, die dabei helfen, eine neue Perspektive einzunehmen oder einen unbeachteten Aspekt zu berücksichtigen. Denn wenn wir alle versuchen, unser Advice Monster einen Moment länger im Zaum zu halten, hilft das nicht nur unseren Vis-à -vis sondern auch uns selbst.
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